<< Reisegeschichten
   
  Auf Arbeit in Tallinn 2008
Die Europäische Union fördert weiterhin die Behördenentwicklung in den neuen Mitgliedsländern durch das sogenannte Capacity Building, in dessen Rahmen ich ja 2006 schon in Malta unterwegs war und die von mir entwickelte Software
 VPS.system  dort unter die Leute gebracht habe. 
Gleiches sollte ich, diesmal aber nur für 2 Wochen, auch in Estlands Hauptstadt Tallinn tun. Es gibt schlimmere Einsatzorte, also wurde ohne viel Wenn und Aber zugesagt.
Mein Arbeitgeber hatte nichts dagegen mich freizustellen - also auf in den baltischen Winter.

Ich wurde somit wurde wieder als Short Time - Expert von der GTZ engagiert. Es gab ausreichend zu tun und so konnte ich die ohnehin kurzen Wintertage füllen. Die folgenden Texte sind wieder den Mails entnommen, die ich wöchentlich in die Heimat sandte, um die Daheimgebliebenen von den baltischen Abenteuern zu erzählen.

Die Fotos finden sich ganz unten!
 
Woche 1

Der Flug in den etwas höheren Norden bringt uns zwar nach Tallinn, aber nicht etwa in den gefühlten Norden. Das unter dem Flugzeug vorbei ziehende, zu etwa 60% bewaldete und wenig besiedelte Gelände zeigt nicht einmal eine geschlossene Schneedecke. Beim Aussteigen gefriert auch nicht die Spucke im Mund, sondern die Temperatur schwingt um den Nullpunkt wie zuhause auch.
Auch nicht schlecht, sind wir wenigstens passend angezogen, denn für dauerhafte – 10°C und tiefer hatte unser Kleiderschrank sowieso nichts Gescheites zu bieten.

Die Taxifahrt führt nach Verhandlung des Fahrpreises (wir erfahren natürlich erst hinterher von zwei anderen Deutschen, dass es auch für 2/3 des Preises gegangen wäre) durch die übliche Marketingzone einer europäischen Hauptstadt voller Autohäuser, Shoppingmeilen und Verkehrsströme.
Unsere angemietete Ferienwohnung befindet sich jedoch in der Altstadt Tallinns, in der es kaum Autoverkehr gibt und des Nachts eine Ruhe herrscht wie auf dem Dorfe, von dem wir kommen.
Unsere Wohnung: Der Vermieter nennt sich ‚Old House‘ (www.oldhouse.ee) und vermietet u.a. Ferienwohnungen in der Altstadt. Die freundliche junge Dame vom Empfang führt uns nach Abschluss der Formalitäten und der erfolgreichen Belastung meiner Kreditkarte 6 Häuser weiter zu dem, in welchem sich unsere Wohnung befindet. Als sie beginnt, an einer Haustür zu schließen, hoffen wir kurz, sie hätte sich verirrt. Ein einstöckiges, unbewohnt wirkendes und einer gnadenvollenden Abrissbirne harrendes Gebäude.
Aber siehe da: hinter der runzligen Fassade und der klemmenden, verschrammten Haustür verbirgt sich ein bereits sanierter Kern. Angenehme Zweiraumwohnung mit Parkett, Wendeltreppe, großer Küche und - Kamin!

Die ersten Erkundungsgänge durch Tallin offenbaren eine wirklich bezaubernde Altstadt, eine fast vollständig rundum erhaltene Stadtmauer, nette und offene Leute und eine Mischung aus russischem, nordischem und westlichem Gemüt und Ambiente.
Das Preisniveau der Gastronomie ist human: das große Bier kostet 40 Kronen = 2,60 EUR, ein mittleres Essen kostet um die 10 EUR. Kneipen gibt es hier ohne Ende in allen Schattierungen und Designs. Wer Zeit und Geld genug hat, kann hier jeden Abend eine komplett andere Gastronomie besuchen.
Da wir beides nicht haben, beehren wir zwecks Einkäufen den örtlichen Supermarkt nah unserer Behausung. Geöffnet täglich 9-22 Uhr, sonntags nur bis 20 Uhr. Aber der Alkoholverkauf stoppt per Gesetz bereits ab 20 Uhr, ab diesem Zeitpunkt versperrt ein rot-weißes Flatterband den Weg zu Spirituosen und Weinen. Bier gibt es aber immer, Bier ist kein Alkohol.

Wer durch Tallinn wandert, sollte festes Schuhwerk tragen. Das liegt nicht an knöcheltiefem Matsch oder weiten Wegen, sondern an dem sehr bänderschädigenden groß- und rundsteinigen Straßenpflaster.
Weiterhin bildet jeder Dachrinnenauslauf eine Rinne auf dem Gehweg in Richtung Straße, in welcher man ebenfalls sehr gut umknicken kann. Zwar werden auch einheimische Damen in hohen Pumps beobachtet, welche trittsicher die Straßen benutzen, aber das muss man dann sicher von klein auf gelernt haben. Wir bevorzugen unsere Wanderschuhe beim Gang durch die Altstadt. Zumal bei Regen eben alle Dachrinnen auf die Straßen entwässern und man dann gut daran tut, wasserdichte Schuhe zu benutzen.

Unsere dem äußeren Understatement ergebene Behausung befindet sich übrigens in bester Umgebung. Schräg gegenüber befindet sich die litauische Botschaft. Zwar ist Litauen das ärmste Land des Baltikums, aber immerhin.
Von meinem Arbeitsplatz zuhause habe ich einen schönen Blick auf die alte Stadtmauer und einen der vielen Wehrtürme, die dieses Stück Weltkulturerbe umgeben.

Die Straße, in der wir wohnen nennt sich ‚Uus‘. Dieses Wort heißt ‚neu‘ und kommt wohl daher, dass es die erste außerhalb der alten Stadtmauer gelegene Ringstraße ist, welche im Rahmen der Stadterweiterung angelegt wurde, als es nicht mehr so notwendig war, sich hinter den Mauern in Sicherheit zu verstecken. Man muss bedenken, dass Tallinn vom 14. Bis zum 16. Jhh. eine sehr reiche Hansestadt gewesen ist. Da war Vorsorge nötig und führe dazu, dass Tallinn im 15. Jhh. die mächtigsten Stadtbefestigungen Nordeuropas besaß.

Die Arbeit: wir sind ja nicht zum Urlaub hier, sondern es gilt, das deutsche VPS an estnische Bedürfnisse anzupassen und hier zu installieren. Meine Vorarbeiter haben es geschafft, ein schriftliches Konzept zu verfassen, welches ich nur noch umzusetzen habe. Das ist diesmal also viel konkreter als 2006 auf Malta, aber dafür habe ich hier auch nur 2 Wochen Zeit und kein Extra-Budget für weitere Arbeiten zuhause.
Im Laufe der ersten Woche sind auch fast alle zu importierenden Daten vorhanden und ich kann bereits am Tag 3 nach Arbeitsbeginn den deutschen und den estnischen Projektleiter mit einem funktionierenden System, welches teilweise mit estnischen Daten gefüllt ist, beglücken. Das schafft auch soweit Vertrauen, dass ich weiterhin meinen Heimarbeitsplatz benutzen kann und mich nicht in das neonflimmernde und überheizte Zimmer im Umweltministerium klemmen muss, in welchem der deutsche Projektleiter Hartmut Nies, seine Assistentin Merle Oaglu sowie zwei kleine Grünpflanzen residieren.
Dieses befindet sich zwar nur 3 Zimmer entfernt vom estnischen Umweltminister, also ebenfalls in diplomatisch bevorzugter Lage, ist aber trotzdem ungemütlich.

Am Dienstag unserer ersten Woche besuchen wir den Markt in Tallinn. Dieser befindet sich hinter dem Bahnhof und ist fest in russischer Hand. Hinter dem Bahnhof beginnen auch die etwas schlechteren Wohnviertel, die vorwiegend von Russen bewohnt werden und die fließend in die ehemaligen russischen Kasernen und Militärgelände übergehen.
Der Reiseführer sagt zu dem Markt: ‚Visit at your own risk‘. Aber das ist sehr übertrieben. Er ist ein Gemenge aus Buden, ordentlichen Markthallen, fliegenden Händlern bis zu dick verpackten russischen Omis, die Eingewecktes Obst und Gemüse verkaufen. Es gibt wirklich alles vom Becher Sauerkraut bis zum Nerzmantel, der hier wahrscheinlich ein Zehntel dessen kostet, das man im deutschen Kürschnerhandwerk dafür hinblättern müsste.
Meine Restbrocken russischer Sprachkenntnis führen zu lustigen Wortwechseln, die älteren Russinen kramen deutsche Abzählreime aus dem Gedächtnis wie: „Ich heiße Peter, du heißt Paul, ich bin fleißig, du bist faul.“ Jedenfalls lernen wir auch, dass die Tochter der freundlichen Brotverkäuferin nun in Wien lebt. Die estnische Bevölkerung besteht aus knapp 30% Russen, die es hier nun nicht mehr so leicht haben wie vor der Unabhängigkeit Estlands.

Wir sind von dem Markttreiben begeistert und beschließen, unseren Lebensmittelbedarf fortan nur noch hier zu decken.
 
nach oben
Woche 2

Die zweite Woche unseres, von den Kollegen immer noch als Erholungsurlaub bezeichneten, Arbeitsaufenthaltes hatte es in sich.
Immerhin kamen wir in dieser Woche bisher nur zwei Mal zu einem abendlichen Kneipenbesuch! Das lag zum größten Teil an dem wirklichen vollen Arbeitsprogramm, welches mich von manchentags früh um 8 bis abends gegen 11 vor dem Rechner klemmen lässt. Dazu habe ich mir noch etwas Grippeähnliches eingehandelt.
Aber Stand heute, Donnerstag abend, ist das Pensum geschafft. Software fertig, alle Daten drin, heute im Rescue Board installiert und 3 Stunden lang erfolgreich geschult. Morgen Installation und Einführung im Umweltministerium sowie Mission Report für die EU schreiben, dann können wir am Sonnabend wieder abfliegen.

Das vergangene Wochenende war durch zwei Arten von Freizeitbeschäftigung gekennzeichnet: am Sonnabend ÖPNV-Surfen und am Sonntag Kulturprogramm.
Die Benutzung des ÖPNV am Samstag bestand aus zwei Breitspur-Zugfahrten aufs flache Land und der Busfahrt zurück nach Tallinn. Das Wetter gab sich hoch unzufrieden, wir hatten die Wahl zwischen Trübnis und Kälte, Schneeregen und Kälte sowie Regen und Kälte.

Die beabsichtigte Fahrt in die Provinzen gewährte den in allen Ländern möglichen unbeschönigten Blick von der Bahntrasse in die unaufgeräumten Hinterhöfe. Hier stellte sich wieder mal heraus, dass die Esten in vielen Bereichen preußischer sind als die Preußen selbst. Es sah im Mittel aus, wie wenn man durchs Brandenburgische führe. Das bezieht sich sowohl auf die Dörfer und Städtchen als auch auf die Landschaft.

Was ein bisschen das Bild herunter zieht, sind verlassene und verfallende Industrieanlagen sowie die Gelände ehemaliger Kolchosen und Sowchosen. Überhaupt gibt es in der Gegend südlich von Tallinn kaum Ackerbau, aber das kann an den mageren Böden und dem feuchten Gelände liegen, welches vorwiegend als Grasland genutzt wird. Wenn dort, wie in den meisten Fällen, natürlich nicht gerade Wald steht.

Ein touristischer Höhepunkt der Gegend sind die ehemaligen baltisch-deutschen Herrenhäuser. Durch unseren beschränkten Aktionsradius ( öko ÖPNV statt Mietwagen) haben wir nur zwei weniger prächtige Exemplare gesehen. Eines diente als Kulturhaus des Städtchens Kohila das andere mickerte vor sich hin und diente offenbar als Wohnstatt von Jemandem, der sich drei sehr alte Pobeda-Karossen und einen Wolga aufhebt, um sie in wärmeren Zeiten zu verbasteln.

Weitere Höhepunkte brachte die Tour übers Land nicht, aber der über Reiseführerrouten hinausgehende Einblick in das provinzielle Leben war die nassen Klamotten allemal wert.

Da wir für den nächsten Tag den ausgedehnten Besuch der geschützten Innenräume des KuMu (Kunstmuseum) geplant hatten, herrschte natürlich bestes Wetter. Aber damit war auch der erforderliche Anmarsch angenehmer zu bewältigen. Dieser führte z.B. an einer Methodistenkirche im Stealth-Bomber Design vorbei, die auch innen sehr spacig eingerichtet war.
Eine gemütliche Holzhaussiedlung aus alten russischen Zeiten befand sich in der Komplettsanierung. Überhaupt verkneift man sich grobe Stadtplanungsfehler, bis auf einige Shopping Malls, Cinemaxxe und Hoteltürme natürlich, ohne die es wohl nicht geht. Aber die Einbeziehung alter Bausubstanz in das Stadtbild und des Öfteren ihre Verbindung mit flottem skandinavischem Design zeugt doch von aufgeschlossenen Stadtplanern.

Im hypermodernen Kumu wandelten wir durch die Bildenden Künste von der baltischen Historienmalerei bis zur Moderne, die Sonderausstellung war von Herrn Miró gestaltet worden.

Der Abend brachte nach dem Gang in unsere Villa noch einen weiteren Höhepunkt: im Rahmen des stattfindenden Festivals der Barockmusik spielten italienische Virtuosen ihren Antonio Vivaldi hoch und runter, natürlich inklusive der Quattro Stagioni.
Nach der 3. frenetisch erklatschten Zugabe sprach der Maestro von der Bühne, dass nun aber Schluss sei, dann spielten sie noch Einen und verließen fluchtartig das tobende Konzerthaus.
So zugeschnürt die Esten sind, wenn es um die Musik geht, kommen sie offensichtlich gewaltig.

Der Heimweg nach dem Konzert fand schließlich in heftigem Schneetreiben statt, was die Hoffnung auf einen kleinen Wintereinbruch schürte. Der Schnee ging in der Nacht aber in warmen Regen über, womit das nasskalte Wetter unserer zweiten Woche eingeleitet wurde.

Da wir dem Maritimen besonders zugeneigt sind, besuchten wir in der Woche zwischendurch auch mal das Schifffahrtmuseum, was sich nur drei Straßen von unserer Stadtvilla entfernt befindet. Dieses Museum befindet sich im dicksten der vielen Wehrtürme der Stadtbefestigung, der Dicken Margarethe. Besonders wertvoll ist neben vielen interessanten Ausstellungsstücken der Blick vom Dach auf die stille Seite der Altstadt und nach außen auf die brodelnde Hauptstadt außerhalb des UNESCO-Reservates.

Nachdem der morgige Tag dann hoffentlich auch erfolgreich abgewickelt werden wird, wird es abends ein internes Abschiedsessen mit dem Hamburger Kollegen Dirk Spengler in der Mittelalter-Spelunke ‚Olde Hansa‘ geben.
Dann sind wir wieder wundersam erleichtert, denn eine Aufgabe ist erfüllt. Dieses Gefühl kann dann zuhause noch einen Tag lang anhalten bevor ich mich am Montag wieder in ein Projekt stürze, das die zwei Wochen hier verbrachter Zeit eigentlich selbst dringend nötig gehabt hätte.

Ich beschließe diesen Bericht mit einem klugen Spruch vom Talliner Rathaus:

RECHT BLEIBT UND LEST SICH NICH UNTERDRÜCKEN IHMM MÜSSEN WEICHEN ALLE BOSE TÜCKEN
nach oben
nach oben